Sozialparlamentarier im Gespräch
Corona – eine Herausforderung für die Solidargemeinschaft
16.08.2021
Das deutsche Gesundheitssystem und speziell die Krankenkassen erleben in der Corona-Pandemie außergewöhnliche Herausforderungen. Wie werden sie mit diesem Druck fertig? Wie besteht die Solidargemeinschaft insgesamt diese Belastungsprobe? Welche Lehren sind aus der Krise zu ziehen, und was bedeutet das für die Versicherten und Beitragszahler? Darüber debattierten Anfang Juli ehrenamtliche Sozialparlamentarier aus allen sechs Ersatzkassen per Videokonferenz.
Ein zentraler Punkt dabei war zwangsläufig das Geld. Die anhaltende Corona-Pandemie verursacht im Gesundheitswesen hohe Kosten. Wer soll das bezahlen? Jedenfalls nicht die gesetzliche Krankenversicherung allein, auch der Staat müsse weiterhin seinen Part beitragen – darin waren sich alle Gesprächsteilnehmer einig.

„Die Kosten einer landesweiten Pandemie werden wir aus den Mitteln der Beitragszahler alleine nicht wuppen können. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, betonte Dietmar Katzer, Präsidiumsmitglied des Verwaltungsrates der BARMER. Klaus Wonneberger, Verwaltungsratsvorsitzender der HEK, pflichtete ihm bei: „Krankheitskosten für die in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Menschen sind unsere Aufgabe als Kassen. Alles, was darüber hinausgeht, ist nicht unsere Aufgabe. Da sind der Staat gefordert und die anderen Versicherungsträger.“
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Einig waren sich die Sozialparlamentarier der verschiedenen Ersatzkassen auch darin, dass der Mehraufwand für die Bewältigung der Pandemie keine Verschlechterung der gesundheitlichen Betreuung an anderer Stelle zur Folge haben dürfe. Grundsätzlich dürften finanzielle Herausforderungen hier nicht zu Einschnitten führen: Gesetzliche Leistungsbeschränkungen könne und wolle er sich überhaupt nicht vorstellen, sagte Dominik Kruchen, alternierender Vorsitzender des Verwaltungsrates der Techniker Krankenkasse (TK). Für ihn gebe es nichts Schlimmeres, als berechtigte Interessen von Versicherten mit einem Nein beantworten zu müssen, weil der Gesetzgeber das in dem einen oder anderen Fall so vorschreibe. In diesem Punkt seien sich alle Selbstverwalter einig, egal ob Versicherten- oder Arbeitgebervertreter: Beim Thema Finanzen dürfe die Politik nicht noch stärkeren Einfluss nehmen. „Wir wollen selbst sagen, wofür wir das Geld ausgeben. Wir wollen unsere Haushalte selbst bestimmen.“
Die Gesprächsteilnehmer erinnerten an die Zusage der aktuellen Regierungskoalition, dass zumindest bis 2022 die Sozialbeiträge in Deutschland nicht über 40 Prozent der Löhne und Gehälter ansteigen würden. An dieses Versprechen müsse sich nach der Bundestagswahl im Herbst auch die künftige Bundesregierung halten, forderten sie übereinstimmend.
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Um gerechte Lastenverteilung innerhalb der Solidargemeinschaft ging es auch, als das Gespräch auf die Pflege in Corona-Zeiten kam. Die Pandemie habe manche Missstände aufgedeckt: Im stationären Bereich sei lange Zeit zu wenig in Personalgewinnung und Ausbildung investiert worden, kritisierte Michael Witte, Mitglied des Verwaltungsrates der KKH. Im privaten Bereich, in dem sich Millionen Menschen aufopferungsvoll um pflegebedürftige Angehörige aus der eigenen Familie kümmern, müsse ebenfalls noch mehr passieren. „Wir müssen gerade in der Pandemie die Bedingungen für die Menschen, die pflegen, verbessern – in finanzieller Art, in Rentenfragen und so weiter“, sagte Dieter Schröder, Verwaltungsratsvorsitzender der DAK-Gesundheit. „Da gibt es meines Erachtens noch einen erheblichen Nachholbedarf.“
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Dominik Kruchen von der TK stimmte Schröder zu. „Pflegekräfte wachsen nicht auf den Bäumen. Wir müssen sie letzten Endes auch hier im Lande rekrutieren können“, sagte er. Dafür seien ganz viele Ideen vonnöten, und die Kassen brauchten die nötige „Beinfreiheit“, um neue Konzepte in der Praxis ausprobieren zu können.
Große Chancen für eine noch bessere Gesundheitsversorgung und für den Schutz vor Pandemien sahen alle Gesprächsteilnehmer in der Digitalisierung. „Das ist nicht nur das Gesundheitsamt und nicht nur die elektronische Patientenakte. Es geht um das Zusammenspiel, die Zahnrädchen müssen ineinandergreifen“, sagte Torsten Nimz, Mitglied des Verwaltungsrates der hkk. In diesem Sinne müssten die Soziale Selbstverwaltung, die Krankenkassen insgesamt und auch der Staat ihre Anstrengungen jetzt vereinen.
Weiteren Handlungsbedarf machte Dietmar Katzer von der BARMER im Bereich der flächendeckenden Gesundheitsversorgung in Deutschland aus. „Wir könnten tendenziell noch besser aufgestellt sein“, sagte er. „Im stationären Bereich haben wir in der Pandemie unsere Bewährungsprobe zwar bestanden, denke ich. Aber trotzdem müssen wir noch einmal über eine große Krankenhausreform nachdenken.“

Im Gespräch der Sozialparlamentarier ging es jedoch nicht nur um die zutage getretenen Schwächen, sondern auch um die nachgewiesene Leistungsfähigkeit des selbstverwalteten deutschen Gesundheitssystems. „Wie stabil und belastbar unser Gesundheitswesen ist, hat sich in der Hochphase der Pandemie gezeigt“, sagte Dieter Schröder von der DAK-Gesundheit. „Corona hat uns unsere Stärken gezeigt: Wie wir zusammenstehen können, um die Pandemie zu bewältigen“, sagte auch Michael Witte von der KKH. Die Bereitschaft, Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen zu akzeptieren zum Schutz der Schwächeren; die Entwicklung eines neuen Impfstoffs innerhalb kürzester Zeit – „das ist so noch nie dagewesen“, erklärte er.
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Diesen Geist gelte es zu bewahren, sagte hkk-Verwaltungsrat Torsten Nimz. „Corona wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein“, erklärte er. „So hart es klingt: Diese Pandemie war wohl nur der Startschuss für weitere Veränderungen, die wir in den nächsten zehn oder 20 Jahren erleben werden. Das ist eine riesige Herausforderung für uns alle, und am Ende müssen wir das Beste daraus machen.“
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Zuversichtlich zeigte sich auch Klaus Wonneberger von der HEK. „Das deutsche Gesundheitssystem erbringt gute Leistungen , die sich im europäischen Vergleich sehen lassen können“, sagte er. Selbstverständlich sei die gute Krankenversicherung keineswegs, wie der Blick in andere Länder zeige. Die in Deutschland vorhandene Substanz bürge aber dafür, dass sich die Versicherten auch in Zukunft auf ihre Gesundheitsversorgung verlassen könnten.
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