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„Die Impfmuffel kommen jetzt ins Grübeln“

Das Angebot von Impfungen wird in Deutschland sehr unterschiedlich wahrgenommen. Das zeigt eine Studie des Verbandes der Ersatzkassen e.V. (vdek),  die kurz vor dem Jahresende vorgelegt wurde. Boris von Maydell, Abteilungsleiter Ambulante Versorgung beim vdek, und Sandra Speckert, ehrenamtliche Versichertenvertreterin im Sozialparlament der hkk, erläutern, welche Erkenntnisse die Studie bietet – und welche Schlussfolgerungen sich aus ihr für die Bekämpfung der Corona-Pandemie ergeben.

Herr von Maydell, der vdek hat eine Karte veröffentlicht, aus der man ablesen kann, wie viele Menschen über 60 Jahren sich im vergangenen Jahr gegen Influenza impfen ließen. Fast überall in den sogenannten alten Bundesländern dominieren die Farben orange und rot, in den ostdeutschen Ländern ist die Karte dagegen fast überall gelb oder grün eingefärbt. Das müssen Sie erklären.

Boris von Maydell: Rot und orange bedeuten, dass weniger als 30 beziehungsweise weniger als 45 Prozent der Frauen und Männer in der genannten Altersgruppe die Chance zur Impfung genutzt haben. In den gelb und grün markierten Gebieten liegt die Impfquote dagegen deutlich höher, teilweise sogar über 75 Prozent. Damit ist schon auf den ersten Blick zu erkennen: Wir haben hier ein ganz starkes Ost-West-Gefälle.

Nur bei der Grippe-Impfung? Und nur in dieser Altersgruppe?

Boris von Maydell: Nein, es ist ein allgemeines Phänomen. Bei der Impfung gegen Pneumokokken, die unter anderem schwere Lungenentzündungen hervorrufen können, zeigt sich zum Beispiel genauso ein Unterschied. Und wenn neue Angebote hinzukommen, setzen sie sich im Osten regelmäßig schneller durch als im Westen. Als Beispiel kann ich Ihnen hier die Schluckimpfung gegen das Rotavirus nennen, die seit 2013 von der Ständigen Impfkommission (STIKO) für Babys vom Alter von sechs Wochen an empfohlen wird, weil sie Durchfallerkrankungen vorbeugt. Deutlich besser sieht es immerhin aus bei den Standardimpfungen im Kinder- und Jugendalter, die meist im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U9 beim Kinderarzt vorgenommen werden. Da erreichen wir Quoten von durchschnittlich 77 Prozent bei den Zweijährigen und 92 Prozent bei den Vier- bis Siebenjährigen – und zwar bundesweit, ohne allzu große regionale Unterschiede. Bei Kindern sind allerdings auch kleine Unterschiede medizinisch sehr relevant.

Trotzdem verbleibt eine relevante Minderheit, die Impfungen selbst gegen Krankheiten wie Tetanus, Masern oder Kinderlähmung vermeidet und auf mögliche Impfschäden hinweist. Impfungen sind in der Bevölkerung also durchaus nicht unumstritten. Frau Speckert, was sagen Sie als Versichertenvertreterin?

Sandra Speckert: Da gibt es für mich keinen Zweifel: Impfungen sind ganz, ganz wichtig. Ich habe mich vor einigen Jahren, als mein Sohn geboren wurde, sehr intensiv mit der gesamten Problematik befasst, auch mit den Impfrisiken natürlich. Aber alle Recherchen haben gezeigt, dass diese Risiken relativ klein sind. Wesentlich größer sind die Risiken, wenn man nicht geimpft wird, und wesentlich schlimmer sind die Konsequenzen, die man trägt, wenn man sich dann tatsächlich ansteckt. Deshalb sage ich als Versichertenvertreterin ganz deutlich: Wer die Chance zu Impfungen nicht nutzt, der handelt aus meiner Sicht grob fahrlässig.

Wie erklären Sie es sich, dass im Osten offenbar mehr Menschen Ihre Ansicht teilen als im Westen?

Sandra Speckert: Das muss etwas mit der unterschiedlichen Historie zu tun haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass in der DDR mehr geimpft wurde als in Westdeutschland, und zwar sowohl bei Pflichtimpfungen als auch in freiwilligen Impfungen. Eine solche Erfahrung prägt. Über die Jahrzehnte haben sich die Menschen daran gewöhnt, dass Impfungen eine gute Sache sind.

Boris von Maydell: Ich stimme Ihnen völlig zu, Frau Speckert. Die Impfpflicht damals in der DDR hat offenbar dazu geführt, dass Impfungen auch heute noch, 30 Jahre später, eine starke Akzeptanz finden. Das ist nicht selbstverständlich! Es hätte auch umgekehrt sein können, und die Aufhebung der Impfpflicht hätte zu einem Gegeneffekt führen können. Aber das war zum Glück nicht so.

Kann der Westen hier also vom Osten lernen?

Sandra Speckert: Aber unbedingt!

Boris von Maydell: Keine Frage.

Was tun die Ersatzkassen, um mehr Versicherte zu Impfungen zu bewegen? Was können speziell die Sozialparlamente tun?

Sandra Speckert: Wir als Selbstverwalter haben ständig ein Auge auf das Impfgeschehen. Wir schauen nicht nur auf die Impfquoten, sondern auch auf den konkreten Nutzen, den zusätzliche Impfungen bringen könnten. Für etliche Impfungen hat der Gesetzgeber ja festgelegt, dass sie für die gesetzlich Versicherten kostenfrei sind. Alles andere aber ist Sache der einzelnen Kassen und ihrer ehrenamtlichen Verwaltungsräte. Wir als Selbstverwalter entscheiden also darüber, welche weiteren Impfungen von der Kasse bezahlt werden. Auf den Internetseiten der einzelnen Krankenkassen kann man sich gut informieren. Mit der Kostenübernahme allein ist es aber noch nicht getan. Wenn wir erreichen wollen, dass sich mehr Menschen impfen lassen, brauchen wir auch noch mehr Aufklärungsarbeit. Allgemeine Aufrufe reichen nicht aus, und es reicht nicht aus, wenn ich persönlich mit Menschen ins Gespräch komme und sie ermutige, sich impfen zu lassen. Es ist öffentliche Werbung nötig – von der Broschüre, die über die Schulen verteilt wird, bis zum Internet und den sozialen Medien.

Wer soll es tun?

Sandra Speckert: Bei uns in der Selbstverwaltung diskutieren wir regelmäßig darüber, was unsere Kassen selbst noch besser machen können. Aber allein schaffen wir es nicht. Da ist auch die Regierung gefragt, die Politik. Gerade jetzt, wo die Corona-Impfungen bevorstehen.

Kann die vdek-Studie, mit der unser Gespräch begonnen hat, dabei eine Orientierungshilfe bieten?

Boris von Maydell: Ja, denn sie zeigt uns, wo wir unsere Anstrengungen in besonderer Weise verstärken müssen, wenn wir eine hohe Impfquote gegen COVID-19 erreichen wollen: In den „roten“ und „orangen“ Regionen im Süden nämlich, also vor allem in Bayern und in Baden-Württemberg. Dort werden wir mehr Überzeugungsarbeit leisten müssen als in den meisten Regionen im Osten, um das Coronavirus zurückzudrängen.

Sandra Speckert: Ich habe die große Hoffnung, dass die Pandemie zu einem generellen Umdenken führen wird. Auch viele bisherige Impfmuffel sind durch die aktuellen Einschränkungen ins Grübeln gekommen und begreifen, dass eine Impfung das beste Mittel ist, um Krankheiten wie COVID-19 zu besiegen. Meine Familie und ich, wir werden uns auf jeden Fall gegen Corona impfen lassen. Und je mehr Menschen es tun, umso besser ist es für uns alle.