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Aus der Pandemie lernen

Was sich in der Gesundheitspolitik ändern muss

27.09.2021

Selten hat Gesundheitspolitik das Leben der Menschen in Deutschland und der Welt stärker beeinflusst als in den vergangenen Monaten. Auf allen Ebenen griffen die Entscheidungsträger zu Gesetzen und Verordnungen, um der Pandemie Herr zu werden. Vieles wurde beschlossen, einiges wurde unterlassen, vieles diskutiert und abgewogen. Die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen stand dabei immer an der Seite der Menschen, hat schnell gehandelt, Kapazitäten freigehalten, neue Wege geschaffen und Ressourcen in erheblichem Maße mobilisiert.

Viele Probleme sind nicht erst durch die Pandemie entstanden. Letztere machte nur den Handlungsbedarf unübersehbar und leider für viele auch spürbar. Wir dürfen nicht den Fehler machen, uns mit dem zufriedenzugeben, was unser Gesundheitssystem immer noch ausmacht: Leistungsfähigkeit, Professionalität, niedrigschwelliger Zugang und eine ungebrochene Akzeptanz für seine solidarische Finanzierung. Wir müssen auch hier die Erfahrungen aus der Pandemie berücksichtigen, unser Gesundheitssystem zeitgemäß weiterentwickeln und uns der digitalen Transformation stellen.

Aus Sicht des Verwaltungsrats der TK müssen die richtigen Lehren aus der Pandemie gezogen werden, zum Beispiel, wie sich die deutlich ausgeweitete Kompetenz bei der Intensivversorgung weiter verbessern und auf andere Bereiche übertragen lassen kann. Auch die Verfügbarkeit von Echtzeit-Daten im Gesundheitswesen muss ernsthaft diskutiert werden. Zur Behebung des Fachkräftemangels in der Pflege brauchen wir endlich einen Wettbewerb der guten Ideen.

Die Selbstverwaltung ist festen Willens und bereit, die dafür notwendigen wichtigen Entscheidungen vorzubereiten und zu treffen, sei es bei Digitalisierung, Finanzierung, der Verbesserung von Versorgungsstrukturen oder beim Vorantreiben von Innovationen.

Pflege sichern

Die soziale Pflegeversicherung (SPV) wurde in den vergangenen Jahren erheblich umgebaut und auf neue Herausforderungen ausgerichtet. Sie sichert mit jedem Jahr mehr Menschen ihre pflegerische Versorgung. Ihre Ausgaben steigen entsprechend, parallel dazu Beträge und Eigenanteile. Diese Entwicklungen müssen wir als Gesellschaft im Blick haben. Dabei tragen wir nicht nur die Verantwortung für die Gepflegten: Ohne Pflegende geht es nicht. Die notwendige Wertschätzung in den Berufsalltag zu bringen, also bessere Arbeitsbedingungen und dauerhafte Anerkennung für die Arbeit der Pflegenden zu schaffen, ist eine zentrale Herausforderung der Pflegepolitik in den kommenden Jahren.

Wir fordern daher, die Leistungen der Pflegeversicherung zu dynamisieren und einen verbindlichen Steuerzuschuss einzurichten. Damit können die Pflegebedürftigen in allen Versorgungsbereichen entlastet und besser versorgt werden. Gleichzeitig müssen sich auch die Bundesländer stärker bei den Investitionskosten engagieren als bisher. Um die ungleiche Verteilung der Pflegerisiken zu kompensieren, braucht es einen Finanzausgleich zwischen SPV und PPV. Die Arbeit der Pflegenden und den Alltag der Gepflegten wollen wir mit einer fortschreitenden Digitalisierung der Pflege erleichtern. Und ohne bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen wird es nicht gelingen, genügend Fachkräfte in der Pflege zu halten oder neue hinzuzugewinnen.

Wir sind seit jeher davon überzeugt, dass Pflege eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Die Gesellschaft darf Pflegende, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen nicht allein lassen. Das schließt Bund und Länder ebenso ein wie die Tarifpartner - und die soziale ebenso wie die private Pflegeversicherung.

ÖGD krisensicher gestalten

Der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) soll in den kommenden Jahren finanziell, personell und organisatorisch gestärkt werden. Das begrüßen wir. Der Pakt für den ÖGD trägt dazu bei, die Bevölkerungsmedizin und das Gesundheitssystem in Deutschland zukunftsfest aufzustellen. Die Kranken- und Pflegekassen brauchen den ÖGD auch bei der Prävention. Wir haben unser Engagement für Gesundheitsförderung und Prävention – insbesondere in Kommunen, Kindertagesstätten, Schulen, Pflegeeinrichtungen und Betrieben - in den vergangenen Jahren zielgerichtet und qualitätsgesichert ausgebaut. Prävention ist aber vor allem eine gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe. Diese Aufgabe kann nur erfolgreich umgesetzt werden, wenn Bund, Länder und Kommunen an einem gemeinsamen Strang ziehen und die angekündigten Maßnahmen konsequent, zügig und bundesweit umsetzen. Der TK-Verwaltungsrat schlägt vor, dass der ÖGD die Prävention und Gesundheitsförderung noch weiter fasst, damit er diese gemeinsam mit anderen Akteuren auf allen regionalen und kommunalen Ebenen vorantreiben kann.

Arzneimittel: Lieferengpässen vorbeugen

Ein weiteres Problem, das durch die Pandemie nicht erst entstanden ist, aber sichtbar wurde, ist die Abhängigkeit der Arzneimittelversorgung von den langen internationalen Lieferketten. Gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Berichte über Verfügbarkeitsengpässe einzelner Produkte, blickte nun die Welt auf die Kapazitäten zur Impfstoffproduktion und die Anfälligkeit der Arzneimittelproduktion in einer globalen Krise. Der TK-Verwaltungsrat begrüßt daher die politischen Initiativen zur Beseitigung von Lieferengpässen.

Von grundsätzlicher Bedeutung ist dabei eine möglichst hohe Transparenz über das Liefer- und Marktgeschehen, vom pharmazeutischen Unternehmer über den Großhandel bis in die Apotheken, und die Offenlegung vorhandener Risiken in der Lieferkette. Die Anstrengungen zum Erhalt und Aufbau von Produktionskapazitäten in der EU unterstützen wir ebenso wie die in Folge der Pandemie getroffenen Beschlüsse, unter anderem zur Bevorratung oder zu den Auskunftspflichten der Hersteller.

Kassenseitig haben sich die bestehenden Ausschreibungs- und Vergabemodalitäten (Mehrpartnermodelle) als gute Instrumente zur Wahrung der Versorgungssicherheit erwiesen. Diese müssen erhalten bleiben. Im Sozialrecht müssen Vertragsstrafen- und Schadensersatzregelungen bei durch den Hersteller verursachter Lieferunfähigkeit verankert werden. Mit der Einführung des E-Rezeptes verbinden wir die Erwartung, dass sich unsere Versicherten barrierefrei über die Lieferfähigkeit der Apotheke ihrer Wahl informieren können.

Weiterentwicklung der Selbstverwaltung

Ein Schlüsselfaktor bei der Bewältigung der Corona-Pandemie war und ist die soziale und gemeinsame Selbstverwaltung. Gerade die Selbstverwaltung der Gesetzlichen Krankenversicherung hat gezeigt, dass sie konstruktiv und entscheidungsstark ist. So haben die Kranken- und Pflegekassen zahlreiche Sondervereinbarungen geschlossen und kurzfristig Schutzschirme für die Leistungserbringer aufgespannt. Für die soziale Selbstverwaltung der Krankenkassen ist es eine Selbstverständlichkeit, einen substantiellen Beitrag zur schnellen, praxisnahen und flexiblen Bewältigung der Corona-Pandemie und zur Aufrechterhaltung einer bedarfsgerechten gesundheitlichen Versorgung zu leisten.

In den vergangenen Jahren aber war die Gesetzgebung durch einen deutlich erkennbaren Trend zur exekutiven Zentralisierung geprägt. Aus ordnungspolitischen Gründen ist diese staatliche Aufgabenkonzentration ebenso abzulehnen wie die Einschränkung von Rechten der Selbstverwaltung. Dass dies auch durch die oberste Sozialgesetzgebung so gesehen wird, ist für uns eine besondere Bestätigung: Mit seinem Urteil zu der verfassungswidrigen Zahlungsverpflichtung des GKV-SV an die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat das Bundessozialgericht die Rolle der sozialen Selbstverwaltung eindrucksvoll gestärkt. Überall dort, wo Kranken- und Pflegekassen gesamtgesellschaftliche Aufgaben übernahmen, ist es ordnungspolitisch geboten, diese Aufgaben künftig wieder dem Staat zuzuordnen oder die den Beitragszahlerinnen und Beitragszahler entstandenen Kosten aus Steuermitteln zu erstatten.

Der TK-Verwaltungsrat fordert darüber hinaus, dass der Bund seinen eigenen Behörden keine inhaltlichen Aufgaben der Sozialversicherung überträgt und gleichzeitig dafür Sorge trägt, dass die Beitragsmittel der Versicherten allein zur Finanzierung der Aufgaben der Sozialversicherung eingesetzt werden.

Auf die Krankenkassen kommen - auch wegen der angespannten Konjunktur - finanziell herausfordernde Zeiten zu. Umso wichtiger ist es gerade jetzt, dass eine starke Selbstverwaltung hier Verantwortung übernimmt - das geht nur mit den notwendigen Entscheidungsspielräumen. Eine verlässlich funktionierende Selbstverwaltung muss schon deshalb das Eigeninteresse der Politik sein, weil sie eine Basis für unser leistungsfähiges Gesundheitssystem ist. Künftig muss die konkrete Ausgestaltung der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung wieder stärker durch die Beteiligten mit Praxisnähe erfolgen.

Die Rechte der Verwaltungsräte der Krankenkassen müssen deshalb wiederhergestellt und dort, wo es um versichertenorientierte und praxisnahe Entscheidungen geht, die Gestaltungsmöglichkeiten für die gesundheitliche und pflegerische Versorgung ausgebaut werden.

Zukunft der Krankenhauslandschaft

Tagtäglich und rund um die Uhr kümmert sich das medizinische und pflegerische Personal in Deutschlands Krankenhäusern auf höchstem Niveau um die gesundheitlichen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten. Dort werden Menschen gepflegt, Patientinnen und Patienten operiert und Leben gerettet. Besonders während der Pandemie hat das gesamte Personal in den Krankenhäusern Außerordentliches geleistet. Effektive Konzepte zum Schutz und zur Versorgung sind entstanden. Die in den Krankenhäusern arbeitenden Menschen haben mit ihrem Einsatz vielen Patientinnen und Patienten das Leben gerettet und tun dies weiterhin. Es ist jedem einzelnen Mitglied des TK-Verwaltungsrats ein besonderes Anliegen, ihnen dafür aus vollem Herzen zu danken. Uns ist stets bewusst, was unser Land an den Menschen im Gesundheitswesen hat: Sie sind Retter in der Not und ein Anker für die Stabilität unserer Gesellschaft.

Wir als Verwaltungsrat der TK setzen uns daher für eine Neuordnung der Krankenhauslandschaft ein, die ihre Lehren auch aus der Pandemie zieht. Nur indem wir aus diesen Erfahrungen lernen, wird eine bestmögliche und zeitgemäße Versorgung unserer Versicherten und der Menschen in Deutschland ermöglicht. Denn in der aktuellen Ausnahmesituation haben sich neben den persönlichen und professionellen Stärken auch die strukturellen Schwächen unserer Krankenhauslandschaft gezeigt. Hierauf und auf die seit Längerem bekannten Analysen der Stärken und Schwächen muss die Politik reagieren. Mit an vorderster Stelle stehen dabei die konsequente Digitalisierung des stationären Sektors und die sektorübergreifende Vernetzung. Darüber hinaus brauchen wir in der Krankenhausfinanzierung neue Wege, die sowohl Aspekte der Qualität als auch die Gegebenheiten vor Ort bei der Vergütung zu berücksichtigen.

Unser Anliegen als soziale Selbstverwaltung ist es, eine vollumfängliche und flächendeckende Versorgung unserer Versicherten zu ermöglichen - auch in strukturschwachen Regionen. Dabei sind starre Sektorengrenzen hinderlich. Vielmehr sollten sektorenübergreifende Konzepte zum festen Teil der Versorgung werden - zum Beispiel durch regionale Gesundheitszentren (RGZ), die Angebote der stationären und der ambulanten Versorgung bündeln. Diese und weitere Akzente wollen wir im Interesse unserer Versicherten für die gesundheitspolitische Agenda der kommenden Regierung setzen.

Es ist an der Zeit, die bekannten Defizite durch konkrete Reformen abzustellen und das Vergütungssystem so zu gestalten, dass Versorgungsziele auch wirklich erreicht werden können.