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Historische Reform

Viele Anläufe sind in der Vergangenheit fehlgeschlagen, um die Sozialwahlen zu modernisieren. Seit 1974 hat es keine grundlegende Reform mehr gegeben. Die Kommunikations- und Mitbestimmungsgewohnheiten der Versicherten aber haben sich geändert. Daher ist die Einführung der Frauenquote sowie der Online-Wahlen äußerst bedeutsam und wichtig.

Im politischen Reformgeschäft ist es sinnvoll, nicht alles, was bedeutsam erscheint, gleich als historisch zu bezeichnen. Wer kann schon mit Sicherheit sagen, dass aktuelle Maßnahmen im Rückblick als bedeutende Wendepunkte der Entwicklung herausragen werden? Für die Soziale Selbstverwaltung und die sie konstituierenden Sozialwahlen erleben wir gerade eine Reform der Strukturen und Abläufe, wie wir sie seit 1974 nicht erlebt haben. Damals führte man für die Wahlen in Selbstverwaltungsgremien die Briefwahl ein. Das war epochal. Zuvor hatte man wohnortnah in kommunalen Einrichtungen, in Betrieben und in Geschäftsstellen gewählt. Die Stimmzettel zu Hause auszufüllen und einsenden zu können, motivierte 1974 neue Versichertengruppen, sich an der Abstimmung zu beteiligen. Die Wahlbeteiligung sprang sprunghaft an von 20,45 Prozent im Jahr 1968 auf 43,7 Prozent in 1974: eine deutliche Stärkung der Mitbestimmung und der Beteiligung der Versicherten.

Seitdem hat sich am Wahlsystem nichts Tiefgreifendes mehr geändert, obwohl Modernisierungen von vielen Seiten seit Jahrzehnten eingefordert werden. Die Bundeswahlbeauftragten weisen in ihrer Berichterstattung nach den Sozialwahlen regelmäßig auf Reformbedarfe hin und machen konkrete Vorschläge zur Umsetzung. Modernisierungen des Wahlrechts und der Selbstverwaltung wurden aber regelmäßig ergebnislos vertagt. Der letzte Anlauf für eine Sozialwahlreform scheiterte in der vergangenen Legislaturperiode. Die Regierungskoalition aus Union und SPD hatte sich 2013 vorgenommen, die Selbstverwaltung zu stärken und die Sozialwahlen unter anderem durch Online-Wahlen zu modernisieren und das repräsentative Verhältnis von Frauen und Männern in der Selbstverwaltung zu verbessern. Beide Schritte werden seit Langem auch von den Ersatzkassen gefordert. Dem Vernehmen nach konnte man sich dann im entscheidenden Moment aber nicht über die Frage verständigen, eine Geschlechterquote verbindlich einzuführen. Die Folge war, dass die Sozialwahlen 2017 grundsätzlich nach den gleichen Regeln abliefen wie schon 1974.

Das wird 2023 anders sein, wenn die Versicherten zu den nächsten Sozialwahlen aufgerufen sind. Fast unbemerkt wurde dem MDK-Reformgesetz im parlamentarischen Verfahren per Änderungsantrag eine Regelung hinzugefügt, nach der Sozialwahllisten bei der Wahl in die Verwaltungsräte der Krankenkassen beide Geschlechter zu mindestens 40 Prozent enthalten müssen: Eine echte Frauenquote ist also ohne Wenn und Aber einzuhalten und zu beachten durch die kandidierenden Listen.

Der zweite Modernisierungsschritt gelang durch das 7. SGB IV-Änderungsgesetz. Es enthält detaillierte Regelungen für Online-Wahlen in Form eines Modellprojekts bei den Sozialwahlen 2023. Krankenkassen können die Sozialwahlen als Online-Wahlen durchführen, wenn sie dies in ihrer Satzung regeln und in einer gemeinsamen Arbeitsgemeinschaft mit den anderen teilnehmenden Krankenkassen eine einheitliche, gemeinsame Technik einrichten und nutzen. Zum Tragen kommt das natürlich nur, wenn dann bei dem Träger auch Urwahlen stattfinden.

Für gesetzlich vorgeschriebene, bundesweite Wahlen in Deutschland ist die Einführung einer Online-Wahlmöglichkeit zusätzlich zur Briefwahl ein Novum.

21,3 Millionen Versicherte der Ersatzkassen waren 2017 wahlberechtigt. Ihnen nun Online-Wahlen anzubieten, ist in der Tat historisch und wird die Digitalisierung in Deutschland nach einer erfolgreichen Durchführung nicht nur im Gesundheitswesen entscheidend voranbringen.
Uwe Klemens, vdek-Verbandsvorsitzender
Uwe Klemens, vdek

Derzeit befindet sich mit dem Gesetz Digitale Rentenübersicht der dritte Modernisierungsschritt für die Sozialwahlen im parlamentarischen Verfahren. Das Gesetz stärkt das Prinzip der demokratischen Urwahl, also die Wahl mit direkter Wahlhandlung. Listen, die zur Wahl eingereicht werden und Unterstützerunterschriften benötigen, müssen ab der Wahl 2023 nur noch etwa halb so viele Unterschriften vorlegen. Hier werden insbesondere neue Listen profitieren, die bisher nicht bei einem Träger vertreten sind. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten reduziert, unterschiedliche Sozialwahllisten zu vereinigen. Diese Möglichkeiten wurden bisher genutzt, um Selbstverwaltungsgremien ohne Wahlhandlung zu besetzen. Die bisher bestehende Fünfprozentklausel wird gestrichen, was den Einzug von kleinen Listen in große Verwaltungsräte leichter macht. Die Vorschlagslisten der Versicherten erhalten außerdem grundsätzlich die Möglichkeit, in ihrer Listenbezeichnung den Versicherungsträger aufzunehmen, was die Gleichbehandlung der unterschiedlichen Listenträger stärkt. Die Listenaufstellungsverfahren werden außerdem transparenter gestaltet. Bewerber müssen in einem für jeden nachvollziehbaren demokratischen Verfahren aufgestellt werden. Die Protokolle dazu sind zu veröffentlichen.

Auch die Rahmenbedingungen für Ehrenamtliche in der Sozialen Selbstverwaltung verbessern sich. Der gesetzliche Freistellungsanspruch für die Zeit der Kollision von Ehrenamtstätigkeit und Arbeitsverpflichtung wird gestärkt. Für Weiterbildungsmaßnahmen steht nun ein angemessener, zusätzlicher Urlaubsanspruch von fünf Tagen zur Verfügung. Hier fehlt jetzt nur noch der Schritt, für die steuerrechtliche Bewertung der Aufwandsentschädigung, die Mitglieder der Selbstverwaltungsorgane für ihre Arbeit erhalten, angemessene Freibeträge einzuführen und bundesweit einheitlich anzuwenden. Die sogenannte Übungsleiterpauschale für die Tätigkeit in Sportvereinen ist ein passendes Vorbild.

Die Beratungen zum Gesetz Digitale Rentenübersicht sind noch nicht abgeschlossen. Vorausgesetzt die Reformelemente für die Sozialwahlen bleiben hier im Kern unverändert, wird damit erstmals seit 1974 ein wirklicher Reformschub für die Soziale Selbstverwaltung und die Sozialwahlen umgesetzt: Online-Wahlen, Frauenquote, mehr Transparenz, neue Chancen für die Beteiligung der Versicherten und eine Stärkung der Urwahlen. Die Sozialwahlen und das ganze Prinzip der Selbstverwaltung als Beteiligung der Betroffenen werden davon profitieren. Das Prinzip der Sozialen Selbstverwaltung ist urdemokratisch und wird auf diese Weise fit gemacht für die nächste Generation. Dafür ist historisch mit Sicherheit der passende Begriff.