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„Häufig fehlt es am einheitlichen Medikationsplan“

Viele Menschen müssen nicht nur ein Medikament einnehmen, sondern mehrere. Besonders wenn sie sich in eine neue Behandlung begeben, wächst damit das Risiko, dass sich unerwünschte Nebenwirkungen einstellen. Noch viel zu wenig Patientinnen und Patienten hätten den bundesweit einheitlichen Medikationsplan, der eine aktuelle Aufstellung der Medikamente enthalte, sagt Dietmar Katzer, Versichertenvertreter und Mitglied des Präsidiums des Verwaltungsrat der BARMER.

Herr Katzer, wie gefährlich ist es, wenn behandelnde Ärztinnen und Ärzte nicht alle Informationen darüber besitzen, welche Medikamente ihr Patient einnimmt?

Das kann mitunter lebensgefährlich sein. Jedes Jahr kommen fast drei Millionen Menschen ins Krankenhaus, die mindestens fünf Arzneimittel zugleich einnehmen. In der Sprache der Mediziner werden diese Personen als Polypharmazie-Patienten bezeichnet. Wenn der Arzt nicht genau darüber informiert ist, auf welche Tabletten oder anderen Präparate seine Patienten angewiesen sind, entscheidet er sich möglicherweise für eine Behandlung, die ihnen schadet, statt ihnen zu helfen. Für unseren BARMER-Arzneimittelreport haben wir deshalb eine Umfrage in Auftrag gegeben, mit besorgniserregenden Ergebnissen. Von rund 2.900 bei uns versicherten Polypharmazie-Patienten über 65 Jahren hatten nur 29 Prozent bei der Klinikaufnahme den bundeseinheitlichen Medikationsplan, der genau dafür gedacht ist, Informationsverluste zwischen Ärzten zu verhindern. Häufig waren die Informationen unvollständig, und 17 Prozent der Befragten verfügten sogar über gar keine aktuelle Aufstellung ihrer Medikamente. Als Versichertenvertreter/in muss ich sagen: Es ist unverständlich, dass ein so millionenfacher Prozess wie die Aufnahme in ein Krankenhaus derartige Informationsdefizite offenbart.

Werden diese Informationsdefizite während des Aufenthaltes im Krankenhaus wenigstens behoben?

Nach unseren Erkenntnissen fließen die Informationen auch während des Klinikaufenthalts nur bruchstückhaft. 30 Prozent der von unserer Kasse Befragten gaben an, dass ihnen die Arzneitherapie vom Arzt nicht erklärt worden sei. Jeder dritte Patient mit geänderter Therapie erklärte, er habe vom Krankenhaus keinen aktualisierten Medikationsplan erhalten. Das aber bedeutet, dass dem Arzt, der den Patienten nach der Entlassung aus der Klinik weiterbehandelt, vielleicht entscheidende Informationen vorenthalten werden. Wir haben für unseren Report auch 150 Hausärzte befragt. 40 Prozent von ihnen waren unzufrieden oder sehr unzufrieden mit den Informationen durch das Krankenhaus. Eine Routinedatenanalyse hat gezeigt, das 41 Prozent der BARMER-Versicherten im Krankenhaus mindestens ein neues Arzneimittel verschrieben bekamen. Nur bei jedem dritten von ihnen hat das Krankenhaus begründet, warum die vorherige Therapie geändert wurde.

Wie kann man das ändern? Und was können die Krankenkassen dafür tun?

Schuld an den Informationsdefiziten ist nicht so sehr der einzelne Arzt.. Die sektorenübergreifende Behandlung, also das Zusammenspiel von ambulanter Betreuung und stationärer Versorgung, ist unzureichend organisiert. Zudem werden die Möglichkeiten, die die Digitalisierung bietet, nicht adäquat genutzt. Das muss sich ändern, und zwar sehr schnell. Alle Beteiligten müssen gemeinsam nach Lösungen suchen, um der Ärzteschaft die Arbeit zu erleichtern und Risiken für Patienten zu minimieren. Die BARMER hat deshalb im Oktober gemeinsam mit zahlreichen Partnern das Innovationsfondsprojekt TOP gestartet. Die Abkürzung steht für „Transsektorale Optimierung der Patientensicherheit“. Aus Krankenkassendaten werden den behandelnden Ärzten alle für die Behandlung relevanten Informationen zur Verfügung gestellt, sofern der Patient sein Einverständnis gibt. Dazu gehören Vorerkrankungen und eine Liste aller verordneten Arzneimittel. Im Krankenhaus wird der Medikationsplan vervollständigt oder erstellt, sofern noch keiner vorhanden ist, und dem Patienten wird die Therapie erklärt. Eine Therapie kann nur dann nachhaltig erfolgreich sein, wenn der Patient sie versteht und mitträgt. Dafür wollen wir als Krankenkasse unseren Beitrag leisten.