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„Pflegende Angehörige wurden bei der Pflegereform übergangen“

Der Bundestag hat im Juni 2021 mit den Stimmen der großen Koalition das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) verabschiedet, mit dem die Bundesregierung die Rahmenbedingungen für die Pflege verbessern will. Vergessen wurden bei dieser Reform jedoch die pflegenden Angehörigen, kritisiert Dieter Schröder, Verwaltungsratsvorsitzender der DAK-Gesundheit. Er fordert Nachbesserungen.

Herr Schröder, in der Pflegebranche in Deutschland liegt manches im Argen. Es fehlt an Personal, viele Pflegekräfte werden unzureichend bezahlt, lange Arbeitszeiten sind an der Tagesordnung. Kann das neue Gesetz Abhilfe schaffen?

In einigen Bereichen wird diese Pflegereform tatsächlich die Lage verbessern, und zwar sowohl für die zu pflegenden Personen als auch für diejenigen, die diese Pflege leisten. Beides gehört untrennbar zusammen. Als Selbstverwaltung der DAK-Gesundheit setzen wir uns seit langem dafür ein, in den Heimen den Teil der Pflegekosten, den die Betroffenen selbst aufbringen müssen, zu deckeln. Es ist gut, dass da jetzt endlich etwas passiert – auch wenn der Stufenplan des Gesundheitsministeriums bei weitem nicht ausreicht. Wir begrüßen, dass die Pflegekräfte künftig verpflichtend nach Tarif bezahlt werden müssen. Ich habe die Hoffnung, dass die tarifgebundene Entlohnung zu einer stärkeren Wertschätzung des Pflegepersonals und ihrer wichtigen Arbeit beiträgt.

Eine große Enttäuschung ist das neue Gesetz aber für diejenigen, die in der eigenen Familie Pflegearbeit leisten. Mehr als die Hälfte aller 4,1 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden allein durch Angehörige zu Hause versorgt, zwei Millionen Menschen – vor allem Frauen – leisten diese für die Gesellschaft so enorm wichtige Aufgabe. Über ihre Bedürfnisse ist die Regierung bei dieser Reform einfach hinweggegangen.

Die ursprünglichen Planungen sahen deutlich anders aus. Was ist aus ihnen geworden?

Ja, noch im Dezember 2020 kam die Bundesregierung in ihrem eigenen Bericht über die Dynamisierung der Leistungen der Pflegeversicherung zu dem Ergebnis, dass angesichts der Preisentwicklung in den letzten Jahren ein Anstieg der Leistungsbeträge um fünf Prozent angemessen sei. Davon ist nun nicht mehr die Rede. Angehoben werden jetzt nur die sogenannten Pflegesachleistungen, und auch das erst Anfang 2022. Damit steht den Pflegebedürftigen zwar mehr Geld zur Verfügung, wenn sie zum Beispiel bei der Bewältigung ihres Haushaltes Hilfe von professionellen Pflegekräften in Anspruch nehmen.

Das Pflegegeld aber, also die finanzielle Unterstützung für Pflegeleistungen im Bereich der Haushaltsführung, für Hilfe bei der Körperpflege und für pflegerische Betreuung durch ehrenamtlich Pflegende, in erster Linie Familienangehörige, soll weiter auf dem Niveau von 2017 eingefroren bleiben, und das noch bis ins Jahr 2025. Damit können und wollen wir uns nicht abfinden. Allein bei uns in der DAK-Gesundheit erhalten mehr als 200.000 Versicherte Pflegegeld. Gerade in der Corona-Pandemie hat es sie und ihre pflegenden Angehörigen besonders hart getroffen. Sie wurden völlig zu Recht als Risikogruppe eingestuft, mussten sich auf wenige Kontakte beschränken, die Hygienemaßnahmen einhalten und noch mehr füreinander sorgen als sonst. Diese Leistung muss jetzt auch an dieser Stelle anerkannt werden.

Was fordern Sie als Verwaltungsrat, als gewählter Vertreter der Versicherten und Beitragszahler?

Als Selbstverwaltung der drittgrößten Krankenkasse in Deutschland appellieren wir an die künftige Regierung und den neuen Bundestag, so schnell wie möglich nach der Wahl eine grundlegende Pflegereform auf den Weg zu bringen. Das Pflegegeld muss um fünf Prozent angehoben werden, und die dafür nötigen 650 Millionen Euro müssen als Steuerzuschuss aus dem Bundeshaushalt finanziert werden. Pflegende Angehörige sind eine wichtige Stütze unseres Sozialsystems, sie engagieren sich tagtäglich mit großem Einsatz für das Gemeinwohl. Menschen, die für die Pflege von Angehörigen zeitweise ihren Beruf zurückstellen, müssen angemessene Lohnersatzleistungen erhalten und rentenversichert sein. Wer pflegt, darf später nicht in Altersarmut geraten. Wir halten es deshalb für eine Frage der Gerechtigkeit in der Gesellschaft, dass pflegende Angehörige kurzfristig finanziell entlastet werden.