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„Den kompletten Lebensstil umzustellen, ist ein Kraftakt“

15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland leiden unter Übergewicht, sechs Prozent unter Fettleibigkeit (Adipositas). Seit 2009 ist die Zahl der Unter-18-Jährigen, die an extremem Übergewicht leiden, um rund ein Viertel gewachsen, wie eine aktuelle Datenerhebung der KKH Kaufmännische Krankenkasse belegt. Bei Jungen ist dieser Trend noch stärker ausgeprägt als bei Mädchen. Andrea Büricke, Versichertenvertreterin im Sozialparlament der KKH, erläutert Ursachen und Folgen.

Frau Büricke, woher kommt der Trend zu immer mehr übergewichtigen Kindern?

Da sind vor allem zwei Gründe zu nennen. Der eine ist Bewegungsmangel. Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bewegen sich mehr als 80 Prozent der schulpflichtigen Kinder zu wenig. Eigentlich sollten Kinder und Jugendliche mindestens eine Stunde am Tag körperlich aktiv sein. Das muss nicht intensiver Sport sein, ganz alltägliche Aktivitäten wie Fahrradfahren zählen ebenfalls. Doch selbst das schafft nur eine Minderheit. Die Welt, in der Kinder heute aufwachsen, fördert körperliche Inaktivität. Sie sitzen viel im Unterricht und anschließend zu Hause bei den Schulaufgaben, viele verbringen täglich mehrere Stunden an Smartphone oder PC. Dieser Mangel an Bewegung zeigt sich nicht bei allen, aber doch bei vielen an den Extra-Kilos auf der Waage.

Der zweite Grund für das zunehmende Übergewicht ist falsche Ernährung, und falsch bedeutet: zu fettes und zu kalorienreiches Essen. Schokolade und Gummibärchen, zuckerreiche Softdrinks, Chips und Pommes, dazu immer größere Portionen – das hat nun einmal Folgen. In vielen Familien hat sich das Problem der Fehlernährung in Corona-Zeiten noch verschärft. Kein Unterricht in der Schule, das bedeutete auch: Die Schulspeisung fällt weg. Vielen Eltern blieb neben Homeschooling und Homeoffice wenig Zeit für gesundes Kochen. Am Ende lag oft ein Stück Tiefkühlpizza auf dem Teller.

Welche Folgen hat extremes Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen?

Wer als Heranwachsender fettleibig ist, hat ein hohes Risiko, spätestens als Erwachsener zu erkranken, wie jeder Arzt bestätigen wird. Zu den möglichen Begleit- und Folgeerkrankungen zählen Arteriosklerose, Diabetes, Gicht, Fettleber und Fettstoffwechselstörungen, weiter Rücken- sowie Gelenkerkrankungen und Bluthochdruck. Nicht selten werden diese Krankheiten chronisch. Hinzu kommt eine geringere Lebenserwartung vergleichbar der von Rauchern. Fettleibige haben ein deutlich erhöhtes Risiko, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden.

Was also ist zu tun? Und was können die Krankenkassen tun?

Auf jeden Fall sollten sich Kinder und Jugendliche mehr bewegen. Dafür zu sorgen, und das zu ermöglichen, ist Aufgabe der Schulen, vor allem aber ist es ein Auftrag an die Eltern. Sie sollten sich gründlich überlegen, ob es wirklich nötig ist, den Nachwuchs morgens mit dem Auto zum Unterricht zu bringen. Als Krankenkasse sehen wir unsere Aufgabe darin, bei Eltern und Kindern das Bewusstsein dafür zu schärfen, was Fettleibigkeit alles anrichtet. Dabei rede ich nicht nur von den körperlichen Folgen. Wegen seines Übergewichts gehänselt zu werden, nagt schwer am Selbstwertgefühl von Kindern, und es kann Ängste und Depressionen auslösen. In einer solchen Situation ist oft Hilfe von außen nötig. Drei Dinge braucht es, um Fettleibigkeit in den Griff zu bekommen: eine gezielte Umstellung der Ernährung auf fettreduzierte, vitaminreiche Vollwertkost, regelmäßigen Kraft- und Ausdauersport sowie ein Verhaltenstraining. Die Betroffenen müssen tatsächlich ihren kompletten Lebensstil grundlegend verändern. Eine solche Therapie ist ein Kraftakt, der Kindern wie Eltern viel Geduld und Durchhaltevermögen abverlangt. Aber sie stabilisiert die Gesundheit und steigert dauerhaft die Lebensqualität.