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„Der Organspendeausweis ist der entscheidende Schlüssel“

932 Menschen in Deutschland haben im vergangenen Jahr nach ihrem Tod ihre Nieren, ihre Leber oder ein anderes Organ gespendet und damit andere Leben gerettet oder verlängert. Der Bedarf ist ungleich höher: Etwa 9.000 Patienten stehen derzeit auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Um den Betroffenen helfen zu können, kommt es zunächst einmal darauf an, dass sich die Menschen mit der Möglichkeit einer Organspende befassen und dann eine Entscheidung für sich selbst treffen, sagen Dr. Axel Rahmel, Medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), und Bernd Heinemann, Verwaltungsratsvorsitzender der BARMER.

 

Herr Dr. Rahmel, Herr Heinemann, im Februar hat der Bundestag ein Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende verabschiedet. Abgelehnt wurde hingegen ein Gesetzentwurf, der jede und jeden zum Organspender gemacht hätte, sofern sie oder er dem nicht zu Lebzeiten ausdrücklich widersprochen hätte. Sind Sie enttäuscht?

Dr. Axel Rahmel: Ich gebe zu, ich hatte gehofft, dass die Widerspruchslösung eine Mehrheit finden würde. Das wäre ein klares politisches Signal zur Unterstützung der Organspende gewesen. Denn zumindest darüber nachzudenken, ob ich zu einer Organspende bereit bin oder nicht: Das sollte etwas ganz Selbstverständliches sein, und die Widerspruchslösung hätte uns sehr geholfen, die Menschen zu motivieren, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen.

Nun hat der Bundestag eine andere Entscheidung gefällt. Es muss jetzt also darauf ankommen, die vielen guten Elemente, die auch das Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft enthält, möglichst sinnvoll in die Praxis umzusetzen, zum Beispiel die Einbindung der Hausärzte und der Bürgerämter. Am Ende geht es ja doch allen darum, den Willen des Verstorbenen umzusetzen. Das setzt aber voraus, dass man den Willen des Verstorbenen erst einmal kennt.

Bernd Heinemann: Das sehe ich ganz ähnlich. Als Krankenkasse haben wir ein hohes Interesse daran, dass die Menschen in Not alle Hilfe bekommen, die möglich ist – vielleicht auch durch eine Organtransplantation. Und dafür ist das Wichtigste, Klarheit zu schaffen, und zwar nicht nur für den möglichen Spender. Klarheit brauchen auch die Angehörigen, die von den Ärzten gefragt werden, ob der Verstorbene wohl einverstanden gewesen wäre, als Spender zur Verfügung zu stehen. Es ist nicht fair, wenn man sie mit der schwierigen Entscheidung allein lässt.

Für all das ist der Organspendeausweis der entscheidende Schlüssel. In ihm lege ich selbst fest, wozu ich bereit bin und wozu nicht. Ich kann meine Bedingungen formulieren. Viele Menschen haben dabei aber verständliche Ängste: Es könnte eingegriffen werden in ihren Körper oder in den Körper ihrer Angehörigen, und sie haben nicht die Möglichkeit, das zu steuern. Gegen diese Unsicherheit müssen wir etwas tun, und dafür erwarten wir als Vertreter der Versicherten Unterstützung vom Gesetzgeber.

Wie steht es aktuell in Deutschland um die Bereitschaft zur Organspende?

Dr. Axel Rahmel: Da gibt es unterschiedliche Angaben. Wenn Sie eine Umfrage machen: Haben Sie einen Organspendeausweis?, dann sagen mehr als ein Drittel der Menschen: Ja, ich habe mich entschieden, und ich habe es dokumentiert. Schauen Sie aber in die Praxis, wie oft Sie im Fall der Fälle einen Organspendeausweis oder eine Patientenverfügung vorfinden, dann sind es knapp über zehn Prozent. Die Diskrepanz ist groß.

Was leisten die Krankenkassen, um das Nachdenken über eine Organspende zu befördern?

Bernd Heinemann: Unsere Kasse und auch wir als ehrenamtlicher Verwaltungsrat nutzen vor allem unsere Möglichkeiten der Kommunikation. Wie viele andere Krankenkassen auch legen wir regelmäßig unserer Mitgliederzeitschrift einen Organspendeausweis bei, den man nur noch ausfüllen und in die Brieftasche einstecken muss. In den Zeitschriften, in den digitalen Medien – überall erklären wir, was Organspende bedeutet. Wir erzählen die Geschichten von Versicherten, die sich für eine Spende entschieden haben, und von Patienten, denen mit einer Spende geholfen werden konnte. Die Menschen umfassend zu informieren gehört zu unserem Auftrag als Selbstverwalter.

Auf dem Internetportal der BARMER kann man sich einen Organspendeausweis selbst herunterladen. Greifen die Versicherten auf dieses Angebot zurück?

Bernd Heinemann: Ja, wir haben die Erfahrung gemacht, dass diese Möglichkeit genutzt wird. Wir als Kasse geben unseren Versicherten das Werkzeug in die Hand. Wie viele Menschen am Ende auch wirklich den Ausweis ausfüllen und bei sich tragen – das kann vielleicht Herr Dr. Rahmel besser beantworten.

Dr. Axel Rahmel: Genau weiß es niemand, denn ein Register für die Organspende besteht in Deutschland noch nicht. Es soll erst eingerichtet werden. Beobachtet haben wir aber, dass es Anfang des Jahres, also etwa gleichzeitig mit den Debatten im Bundestag, ein hohes Interesse in der Bevölkerung am Organspendeausweis gegeben hat. So hat sich die Nachfrage nach Organspendeausweisen und Informationsbroschüren seit 2018 fast verdoppelt. Die entsprechenden Seiten etwa bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind millionenfach aufgerufen worden!

Wo steht Deutschland in Sachen Organspende im Vergleich mit seinen Nachbarn?

Dr. Axel Rahmel: In Europa sind wir eines der Schlusslichter. Rechnet man es hoch auf die Einwohnerzahl, gibt es in Belgien und Österreich zweieinhalb Mal so viele Organspenden wie bei uns, in Kroatien und beim Spitzenreiter Spanien mehr als vier Mal so viele. Dort gilt übrigens die Widerspruchsregelung, aber sie ist nicht einmal das Entscheidende. Noch wichtiger ist die Struktur, die dafür sorgt, dass in den Kliniken automatisch an das Thema Organspende gedacht wird. Es gibt Verantwortliche in den Krankenhäusern, die sich um das Thema kümmern. Das Intensivpersonal wird entsprechend geschult. 2019 hat der Bundestag beschlossen, dass genau diese Dinge auch in Deutschland eingeführt werden. Unter Corona-Bedingungen verzögert sich jetzt manches, weil wir nicht einfach in die Kliniken gehen und dort Schulungen veranstalten können. Aber der Weg ist bereitet.

Eine letzte Frage, bitte: Haben Sie selbst einen Organspendeausweis?

Dr. Axel Rahmel: Ja, natürlich.

Bernd Heinemann: Ja, seit mittlerweile neun Jahren. Keiner von uns weiß, ob er nicht selbst einmal in eine Situation geraten wird, in der eine Organspende für ihn zur Lebensrettung werden könnte. An mir wird es nicht scheitern.