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Ein Vorbild für politische Wahlen?

von Prof. Dr. Christoph Bieber

23.10.2020

Die drittgrößte Wahl in Deutschland mit 22 Millionen Wahlberechtigten ist nicht zum ersten Mal Gegenstand eines digitalen Modellversuchs: Bereits 1999 gab es Experimente zur digitalen Stimmabgabe und für 2011 war ein Feldversuch geplant. Nun also liegt die nötige Gesetzesänderung vor und erstmalig wird 2023 alternativ zur Briefwahl die digitale Stimmabgabe bei den Sozialwahlen möglich sein.

Dieser Schritt ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, denn der Einsatz computergestützter Wahlverfahren hat in Deutschland bisher eine wechselvolle und eher unrühmliche Geschichte hinter sich. Bis zum sogenannten Wahlcomputer-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2009 kamen in einigen Wahlbezirken elektronische Wahlgeräte zum Einsatz, auf eine Datenübertragung via Internet wurde dabei jedoch stets verzichtet. Damit blieb die „Digitalisierung von Wahlen“ beschränkt auf den Einsatz stationärer Wahlcomputer, die eine automatisierte Stimmauszählung ermöglichen und auf diese Weise die Organisation und Durchführung von Wahlen vor Ort erleichtern und die Kosten senken sollten.

Wesentlicher Ansatzpunkt für das Gerichtsurteil ist die „Öffentlichkeit der Wahl“, also die Möglichkeit zur Nachverfolgung aller wichtigen Schritte des Wahlverfahrens. Die seinerzeit eingesetzten Wahlgeräte sind jedoch als klassische „black boxes“ zu bezeichnen – Außenstehende, insbesondere Wahlberechtigte ohne Computerkenntnisse, können nicht nachvollziehen, ob ihre Stimme tatsächlich in der von ihnen gewünschten Weise gespeichert, verarbeitet und weitergegeben wird.

Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht den Einsatz computergestützter Wahlgeräte ausdrücklich nicht verboten - Hersteller und Nutzer müssten jedoch sicherstellen, dass jederzeit eine „zuverlässige Richtigkeitskontrolle“ möglich ist. Dafür hätten die damals eingesetzten Geräte modernisiert und erweitert werden müssen – zum Beispiel um die Möglichkeit zur „anderweitigen Erfassung“ der Stimmen, etwa durch den Ausdruck auf Papier. Die Karlsruher Vorgaben besiegelten das Ende einer kurzen Phase des computergestützten Wählens in Deutschland, seitdem ist die Bundesrepublik für die Hersteller von Wahlgeräten schlicht kein Markt mehr.

Blick nach Brasilien und Estland

In – wenigen – anderen Ländern sieht das anders aus: Brasilien wählt seit der Parlamentswahl 2000 mit den sogenannten urnas electrônicas, die eine papierlose Stimmabgabe in den Wahllokalen ermöglichen. Bereits 2010 wurden dort Systeme mit biometrischer Authentifizierung durch einen Fingerabdruck erprobt. Allerdings: Die Stimmen werden dort nicht in einem Online-Verfahren direkt weitergeleitet, sondern lokal gespeichert und in einem von der Stimmabgabe getrennten Prozess weitergeleitet. „Echte“ Online-Wahlen sind bislang nur in Estland standardmäßig in die Wahlorganisation integriert. Hier hat sich die Stimmabgabe via Internet seit 2005 zum festen Bestandteil des Wahlvorgangs entwickelt – und dabei ist ein kontinuierlicher Anstieg der digitalen Beteiligung zu verzeichnen. Bei den Parlamentswahlen 2015 nutzten etwa 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler diese Option, 2019 waren es bereits 43,9 Prozent. Der digitale Urnengang ist in Estland ein weiteres Puzzleteil in der Digitalisierung der Lebenswelt und hat sich als politische Kulturtechnik etabliert.

In Estland wie in Brasilien gründet die Nutzung der digitalen Wahlformate auf einer umfangreichen Verwaltungsmodernisierung, die frühzeitig auf verschiedene Formen von E-Government gesetzt hat und dafür auch ausreichend staatliche Ressourcen bereitstellt. Während in Estland die Digitalisierung ein wichtiger Treiber für das Image als Technologie- und Innovationsstandort ist, gibt es in Brasilien einen eigenen „Wahlgerichtshof“, der in einem aufwändigen Verfahren die Sicherheit von Verfahren und Geräten kontrolliert. So sehen vertrauensbildende Maßnahmen aus, die ganz offenbar dazu beitragen, dass die Bürgerinnen und Bürger die neuen Formen der Stimmabgabe akzeptieren und nutzen.

Testfall Online-Sozialwahlen

Genau an dieser Stelle setzen nun die Online-Sozialwahlen ein wichtiges Zeichen, denn sie eröffnen eine echte Chance für einen Neustart der Diskussion um die digitale Modernisierung von Wahlen in Deutschland. Gewiss, in der Zwischenzeit ist auch hierzulande einiges passiert: Gleich mehrere Parteien haben interne Abstimmungen via Internet organisiert, etwa im Rahmen von Programmparteitagen oder auch bei der Personalauswahl in der Führungsetage. Doch dabei war das Elektorat eher überschaubar, die Delegiertenzahlen auf Parteitagen sind nur selten vierstellig, und bei Mitgliederbefragungen der „Volksparteien“ sind nur wenige Hunderttausend Stimmen zu zählen. Eine Sozialwahl mit mehr als 20 Millionen Wahlberechtigten ist von anderem Kaliber, damit wird sie zugleich zu einem Test auf die Skalierbarkeit bislang erprobter Verfahren.

Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass Wahlen und Abstimmungen in Organisationen etwas anderes sind als „echte“ politische Wahlen, die der Wahl von Volksvertreterinnen und -vertretern dienen – hier gelten besondere Regeln, dies hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes deutlich gemacht. Genau dieser Unterschied hat jedoch dazu geführt, dass die Möglichkeit zur Durchführung einer Online-Wahl Eingang in das Sozialgesetzbuch gefunden hat.

Neue Form der Fernwahl

Sozialversicherungswahlen sind von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgesetzes nicht betroffen, da sie etwas anderes sind als Kommunal-, Bürgermeister-, Landtags- oder Bundestagswahlen. Und sie sind auch deshalb verschieden, weil gerade keine „Wahlcomputer“ zum Einsatz kommen sollen, sondern die Stimmabgabe online erfolgen soll. In dieser Perspektive ist die Online-Wahl eine andere Form der „Fernwahl“ – die es im deutschen Wahlrecht bereits seit den 1950er Jahren gibt, nämlich in Gestalt der Briefwahl. Diese Parallele ist nicht ganz unwichtig, denn genau diese Variante der Stimmabgabe jenseits des Wahllokals erfreut sich immer größerer Beliebtheit. Bei der letzten Bundestagswahl 2017 wurden 28,6 Prozent der Stimmen per Wahlbrief abgegeben. Insofern ist die „Fernwahl“ ein gelernter Bestandteil der deutschen „Wahlkultur“, die nun technologisch auf einen neueren Stand gebracht werden kann.

Selbstverständlich ist es notwendig, diesen Prozess so zu gestalten, dass er technisch solide, benutzerfreundlich, manipulationssicher sowie datenschutz- und verfassungskonform ist – das sind keine kleinen Aufgaben, doch jüngere Erfahrungen mit Online-Abstimmungen gerade durch politische Akteure geben in vielen Fällen schon eine Richtung vor. Nun gilt es also, bis 2023 eine technologische Plattform und ein Verfahren zu entwerfen, das den gestellten Anforderungen entspricht – möglicherweise bietet hier die Entwicklung der Corona-Warn-App etwas Orientierung. Deren Gestaltung als offenes Software-Projekt mit einem transparenten Entwicklungsprozess sowie dem starken Fokus auf Datenschutz-Aspekten hat einen neuen Standard gesetzt. Es bleibt also zu hoffen, dass sich möglichst viele Kassen an diesem Modellprojekt beteiligen – denn dann bleibt die Briefwahl vielleicht nicht die einzige deutsche Fernwahltechnologie.

Prof. Dr. Christoph Bieber - Leiter des Forschungs­inkubators am Center for Advanced Internet Studies (CAIS) in Bochum. Von seiner Johann ­Wilhelm­ Welker-Stiftungsprofessur an der NRW School of Governance der Universität Duisburg ­Essen