Zukunft der Sozialwahlen
Die Zeit für Online-Wahlen drängt
17.10.2019
Die Wahlen zu den Selbstverwaltungsgremien der Rentenversicherung und der gesetzlichen Krankenkassen müssen modernisiert und dem digitalen Zeitalter angepasst werden. Das ist das erklärte Ziel der Sozialparlamente der Deutschen Rentenversicherung Bund und der Ersatzkassen, und auch die Parteien der Regierungskoalition im Bund haben sich wiederholt zu diesem Anliegen bekannt. Welche Reformen im Einzelnen nötig und möglich sind, und wann diese Veränderungen greifen können – das war das Thema der Diskussionsveranstaltung „Die Sozialwahl der Zukunft“ am 17. Oktober 2019 am Sitz des Verbandes der Ersatzkassen e. V. (vdek) in Berlin.

v.l.n.r.: Ulrike Elsner, Rita Pawelski, Kerstin Griese, Klaus Wiesehügel (Bild: Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen, BMAS)
Dessen Verbandsvorsitzender Uwe Klemens und die Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen Rita Pawelski fanden klare Worte beim Thema Online-Wahlen. Es sei eine Frage des politischen Willens, die Sozialwahl 2023 auch online zu ermöglichen, denn es gebe keine überzeugenden Argumente, sich dieser Chance zu verschließen. Beide forderten den Gesetzgeber eindringlich auf, jetzt die notwendigen Weichen dafür zu stellen.
„Wer nicht online wählen lässt, wird sich dafür rechtfertigen müssen.“

Rita Pawelski, die als Bundeswahlbeauftragte für die Sozialwahlen zu der Veranstaltung eingeladen hatte, eröffnete den Meinungsaustausch und kam sofort auf den Punkt: Zu den wichtigsten jetzt nötigen Reformen gehöre die Einführung von Online-Wahlen, und zwar sofort, das heißt rechtzeitig vor den Sozialwahlen 2023. „Wer nicht online wählen lässt, wird sich dafür rechtfertigen müssen“, zitierte sie die frühere Bundessozialministerin Andrea Nahles. Die Datensicherheit sei in diesem Zusammenhang sehr ernst zu nehmen, doch sie sei kein wirklicher Hinderungsgrund: Andere, viel sensiblere Informationen wie Gesundheits- oder Bankdaten seien schließlich schon seit langem online verfügbar.
Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des vdek, pflichtete ihr bei. „Wir brauchen das Digitale-Sozialwahl-Gesetz, und ich glaube, wir sind auf der Zielgeraden“, sagte sie. Elsner verwies auf eine Forsa-Umfrage des vdek, die zeige dass auch die Mehrheit der Ersatzkassenversicherten für die Einführung von Online-Sozialwahlen sei. Zwei Drittel der Befragten hatte angegeben, dass sie bei den Sozialwahlen künftig neben der Briefwahl auch die Möglichkeit haben wollen, online zu wählen. Kerstin Griese, die als Parlamentarische Staatssekretärin das Bundessozialministerium vertrat, erklärte, auch die Bundesregierung wolle die Soziale Selbstverwaltung zukunftsfest gestalten, und viele Forderungen aus dem Zehn-Punkte-Katalog der Bundeswahlbeauftragten würden momentan im Ministerium geprüft, so zum Beispiel die Verankerung eines gesetzlichen Anspruchs auf Freistellung zur Weiterbildung als Selbstverwalter. Online-Wahlen seien allerdings „verfassungsrechtlich komplex“. Deshalb werde das Ministerium dieses Thema im Gesetzgebungsprozess abkoppeln von den anderen anstehenden Reformen.
"In der verfassungsrechtlichen Literatur besteht ein breiter Konsens darüber, dass Online-Wahlen zur Sozialen Selbstverwaltung mit dem Grundgesetz vereinbar sind."

Widerspruch kam umgehend von Dr. Martin Heidebach vom Institut für Politik und Öffentliches Recht der Ludwig-Maximilians-Universität München. Unter den Verfassungsjuristen gebe es „keine einzige Stimme in Deutschland, die Online-Wahlen zur Sozialen Selbstverwaltung für nicht mit dem Grundgesetz kompatibel hält“, hob er hervor. Es lasse sich zwar anführen, dass eine Online-Wahl nur in eingeschränktem Maße die Forderung erfülle, dass Wahlen in Deutschland öffentlich zu sein hätten. Das treffe aber in ganz ähnlicher Weise auch auf Briefwahlen zu, und deren Rechtmäßigkeit werde von niemandem in Zweifel gezogen. Eine niedrige Wahlbeteiligung sei viel bedenklicher, weil sie dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl zuwiderlaufe. Solange Online-Wahlen manipulationssicher und damit glaubwürdig seien, sei gegen sie vom juristischen Standpunkt nichts, aber auch gar nichts einzuwenden, entkräftete Heidebach die Einwände aus dem Bundessozialministerium.
„Mit der Einführung von Online-Wahlen würden Union und SPD endlich ihr Versprechen an die Wähler in die Tat umsetzen: Sie würden die Sozialwahlen modernisieren und die Selbstverwaltung stärken – so wie sie es im Koalitionsvertrag steht.“

Vertreter der Selbstverwaltungsgremien knüpften in einer anschließenden ersten Diskussionsrunde unmittelbar an seine Worte an. Sollte das Bundessozialministerium tatsächlich die Online-Wahlen aus dem Prozess zur Modernisierung der Sozialwahlen herausnehmen, komme dies einem „Begräbnis erster Klasse“ gleich, erklärte Jörg Ide von der TK, der im Auftrag der Sozialparlamente gemeinsam mit Holger Schlicht von der DAK-Gesundheit das Reformprojekt koordiniert. Uwe Klemens, Verbandsvorsitzender des vdek, verwies auf die demokratischen Chancen von Online-Wahlen. „Mit der Einführung von Online-Wahlen würden die Regierungsparteien zudem endlich auch ein wichtiges sozialpolitisches Versprechen an die Wähler umsetzen: Sie würde die Sozialwahlen modernisieren und die Selbstverwaltung stärken – so wie es im Koalitionsvertrag steht.“
Die Online-Wahlen bildeten auch den Schwerpunkt der beiden anschließenden Diskussionsrunden. Dabei wurden jedoch auch andere Aspekte angesprochen. Online-Wahlen allein seien nicht genug, um eine höhere Beteiligung an den Sozialwahlen zu erreichen, sagte Volker Hansen, Verwaltungsratsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes. Ebenso wichtig sei, dass die Sozialparlamente wirklich noch ihre Angelegenheiten selbst regeln dürften. Die Soziale Selbstverwaltung sei aber von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und zuvor schon von seinem Vorgänger Herrmann Gröhe permanent beschnitten worden.
Auch Rüdiger Herrmann, Alternierender Vorsitzender der Vertreterversammlung der Deutschen Rentenversicherung Bund, unterstützte die Einführung von Online-Wahlen. Dagmar König, Alternierende Vorstandsvorsitzende der Deutschen Rentenversicherung Bund, warb ausdrücklich noch einmal für eine verbindliche Frauenquote in der Sozialen Selbstverwaltung. Eine 30-Prozent-Quote, wie sie die Bundeswahlbeauftragte Rita Pawelski als ersten Schritt angeregt habe, sei in keiner Weise ausreichend.
In einer zweiten Diskussionsrunde bezogen Vertreter der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP, Linken und Grünen Stellung zur Modernisierung der Sozialwahlen. Thomas Heilmann (CDU) erklärte, als Jurist halte er Online-Wahlen ausdrücklich für vertretbar. Die Unionsfraktion stehe hinter den Vorschlägen der Bundesbeauftragten. Zudem habe er aus dem Bundesinnenministerium die verbindliche Zusage erhalten, dass es von dort keine rechtlichen Einwände geben werde, wenn das zuständige Bundessozialministerium eine Vorlage für die Vorbereitung von Online-Wahlen auf den Tisch legen werde.
Auf harschen Widerspruch aus dem Publikum stieß Leni Breymaier (SPD), als sie erklärte, die Reform der Sozialwahlen habe Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode 2021. Sie sagte aber zu, sie werde Bundessozialminister Hubertus Heil (ebenfalls SPD) über den Verlauf dieser Veranstaltung berichten und ihm die Anliegen der Selbstverwalter noch einmal vortragen. Pascal Kober (FDP), Harald Weinberg (Linke) und Beate Müller-Gemmeke (Grüne), bekannten sich zur Einführung von Online-Wahlen. Es sei aber nicht Aufgabe der Opposition, sondern der Regierung, einen Gesetzentwurf vorzulegen.
Sollen Online-Wahlen 2023 möglich werden, muss jetzt sehr schnell etwas passieren: Das war das Fazit der Veranstaltung, in der Klaus Wiesehügel, Stellvertretender Bundeswahlbeauftragter für die Sozialversicherungswahlen, das Schlusswort hielt. Das Bundessozialministerium ist am Zuge, wenn das Versprechen einer Modernisierung der Sozialwahlen nicht nur ein Versprechen bleiben soll.